"/> ">

Raupe Mirmidone

- Erster Teil - 
Eine Geschichte von Mediana Stan, Übersetzt von Erika Kommer, Zeichnung von Liviu Boar 

Das Reich der grünen Raupen wurde seit eh und je von den grauen Heuschrecken bedroht. Die Kriege nahmen kein Ende und beide Seiten hatten viele Verluste erlitten. Seit Urzeiten herrschten die grünen Raupen über ein riesengroßes Gebiet mit Apfelbäumen und die grauen Heuschrecken besaßen den benachbarten Obstgarten mit Quitten- und Birnbäumen.
Die Heuschrecken vermehrten sich Jahr für Jahr mehr und ihre Quittenbäume sind  allmählich zu klein geworden, um sie alle zu ernähren. So überfielen sie immer häufiger die Nachbargebiete und nagten die Bäume bis zu den letzten Blättern ab. Die Raupen fraßen dagegen sehr vorsichtig: Sie fraßen die Knospen nicht und ließen Reserveblätter, so waren ihre Obstgärten immer grün und lockten die Heuschrecken an.
Die Burg der Raupen, Knospenburg genannt, befand sich ganz in der Mitte des Obstgartens. Jede Familie fand hinter ihren Mauern Zuflucht und die Larven wurden alle zusammen in einem großen Saal großgezogen, so waren sie in Sicherheit. Die Raupenammen verwöhnten sie mit rohen Blättern und hüllten sie mit grünen Deckchen ein, damit sie nicht frieren.

Die Raupenprinzessin, Mirmidone, war noch jung und hatte noch keine Erfahrung mit dem Regieren. Ihre Eltern, der alte König und seine Frau waren beim letzten Zusammenstoß mit den grauen Heuschrecken gestorben. 
Sie waren nicht die Einzigen, die bei diesem erbitterten Kampf ums Leben gekommen sind. Der große General Siebzig-Fuß-auf-dem-Weg ist ebenfalls durch die Bajonettstöße der Heuschrecken gestorben. Selbstverständlich hatte der General nicht siebzig Füße. Die Stärke der Raupen lag in ihren Füßen, das machte sie gegenüber den Heuschrecken unschlagbar. Obwohl diese springen konnten, brauchten sie dazu mehr Kraft und wurden schneller müde.
Die Raupen mit dem Rang eines Generals haben ihre alten Namen in neue, wohlklingende Namen umgewandelt. Der neue Name bestand aus einer geraden Zahl, größer als zwanzig, gefolgt von „Fuß“. Die Zahl der Füße wuchs paarweise, gemäß der Heldentaten und der gewonnenen Schlachten.

Jeder Fuß stand für eine Kriegsdekoration. Siebzig-Füße hatte fünfundzwanzig Auszeichnungen auf einer Schulter und fünfunddreißig auf der anderen. Der General war der Einzige, der je den Rang von siebzig Füßen erreicht hat.
Nach dem Tod ihrer Eltern hielt Mirmidone ständig Rat mit den drei Ersatzgeneralen und den zwölf Ratgebern. Sie berieten sich ständig darüber, wie sie das Reich von den grauen Heuschrecken befreien könnten.
Aber seit drei Stunden ging es nur um die Namen der Generäle. Sie hießen Zweiundzwanzig-Leichte-Füße, Zweiundzwanzig-Rennende-Füße und Vierundzwanzig-Allwisser-Füße.
Sie behaupteten, dass sie in den letzten Schlachten zahlreiche Fußdekorationen gesammelt haben, aber die Maikäfer, die als Beobachter in den Bäumen hausten, seien heruntergefallen und konnten das alles nicht aufzeichnen. 
„Eure Namen bleiben bis zur nächsten Schlacht unverändert. Das soll euch klar sein.“ - sagte Mirmidone. Die drei Generäle und die Ratgeber meckerten nur; denn nach den letzten Kämpfen sind sie sehr unverschämt geworden.

Die Prinzessin sah sie verblüfft an, ihre Lippen wurden trocken. Sie wollte sich aufrichten, um ihren Rock zu ordnen, aber General Vierundzwanzig-Allwisser-Füße stand mit einem Fuß auf ihrem Rock.
Mirmidone stieß ihn an, da fing er an spöttisch sich vor ihr zu verbeugen. Sie bat um einen grünen Tee, aber der Oberkämmerer grinste und sagte ihr, dass der Tee eben alle geworden ist und sie warten muss, bis der Neue aufgesetzt wird. 
Mirmidone war ein außerordentlich schlankes und liebliches Raupenmädchen. Sie hatte rosa Sommersprossen auf ihrem weißen Gesicht und große, grüne Augen. Sie kaute ständig Harz statt Kaugummi. Zwei lange, gefiederte Fühlerborsten zitterten auf ihrem Kopf. Sie war müde und konnte kaum auf ihren Beinen stehen. (Die Raupen liefen meist aufgerichtet, auf ihren letzten vier Fußpaaren; alle acht Paare verwendeten sie nur, wenn sie müde waren.) Sie stand auf und sagte:

„Bevor ich mich zurückziehe, möchte ich Sie, meine Herren, daran erinnern, dass ich jetzt die Königin bin und Sie mich respektieren müssen.“
Der Große Rat machte einige Verbeugungen, aber nachdem die Prinzessin den Raum verließ, brachen sie in ein lautes Gelächter aus. Mirmidone wollte schon auf ihr Zimmer gehen, sie hatte sich aber anders überlegt, stürmte in den Ratssaal zurück und schlug die Tür aus vollen Kräften hinter sich zu.
Dann spukte sie ihren Kaugummi ins Gesicht des unverschämten Generals, der plötzlich eine klebrige Maske anhatte. Sie begann so laut zu schreien, dass die Glaskristalle des Kronleuchters schellten.
„Unverschämte, haarige Raupen! Das Reich hat Schwierigkeiten und ihr macht euch nur über eure Dekorationen Sorgen! Ich entscheide über euer Leben und Tod, das sollt ihr nicht vergessen! Ihr habt elf Minuten, um mir einen neuen Verteidigungsplan zu zeigen, sonst gebe ich euch mein königliches Ehrenwort, dass ihr hängen werdet wie die Ăpfel! (Das bedeutete in Raupensprache, dass sie sie erhängen wird.) Sie schaute sie mit einem düsteren Blick an und so wie sie gekommen war, ging sie.

Der Kronleuchter schellte noch für eine kurze Minute, dann fiel er krachend auf den Ratstisch.
„Mein Gott!“ – rief ein verkrüppelter Ratgeber unter einer Hülle, die mit goldenen Ăpfeln geschmückt war. Er wollte wieder über die Prinzessin spotten, aber die Generäle hatten dazu keine Lust mehr. Der Oberkämmerer bereitete sofort einen starken Tee mit Zimt und Pfeffer zu und alle zogen in einen kleineren Raum, wo sie anfingen, den Plan zu besprechen. 
Inzwischen betrat eine endlose Reihe von Ameisen den Ratssaal. Sie brachten durchsichtigen Leim in kleinen Tiegeln mit und begannen die winzigen Teile des Kronleuchters einzusammeln und Stück für Stück zusammenzukleben.
Als Mirmidone aufwachte, lief sie schnell, um die Pläne der Generäle zu überprüfen. Es war Mittagszeit, aber sie erlaubte ihnen nicht, zu Mittag zu essen.

Sie setzte sich nicht mehr zwischen sie, sondern saß an der Stirnseite des Tisches in einem Lehnstuhl aus Rosenholz. Die Generäle saßen an beiden Seiten des Tisches, drei Stühle von Mirmidone entfernt.
Sie breitete die Landkarten und die Pläne aus, während sie ein Apfel knabberte. Die Ratgeber diskutierten leise, ab und zu wurde es so still, dass man das Knirschen des Apfels in Mirmidones Mund hören konnte, dann das Magenknurren der Ratgeber, die nur Tee bekommen haben. 
Plötzlich trat ein Leuchtkäfer-Spion ein, der rasch zur Prinzessin wollte. Er berichtete, dass die Heuschrecken in einer Stunde einen Angriff durchführen wollen, in vier Einheiten, von vier Kommandanten geführt, unter ihnen auch der berühmte General Teer.
Vierundzwanzig-Allwisser-Füße stellte schnell fest:
„Majestät, wir brauchen noch einen General. Ich schlage Kapitän Flausch vor.“
Mirmidone stand auf und begann vor den Fenstern auf und ab zu spazieren. Sie war schon bereit, den Vorschlag des Generals anzunehmen, da sah sie einen Raupenknaben, der unter einer Reihe von Apfelbäumen gerade den Speerwurf übte: Als der Speer durch das letzte Laub flog, bohrte er sich in einen Mohnkopf. Mirmidone machte große Augen und war fast sprachlos:

„Bringt den Knaben zu mir. Wie heißt er?“
„Er ist der Speerwerfer Blumensprung.“
Blumennsprung trat in den Saal und verbeugte sich höflich. Sein Gesicht strahlte vor Begeisterung und Wohlwollen. Mirmidone sah ihn an und sagte entschlossen:
„Er wird der vierte General sein.“
„Aber welchen Namen wird er tragen?“- fragten die Generäle besorgt.
Blumensprung setzte sich auf den dritten freien Stuhl und sagte:
„Machen Sie sich wegen meines Namens keine Sorgen. Teilen Sie die Armee in vier Truppen und jeder von uns, wird einen Trupp anführen.“

Nur darauf haben die drei Generäle gewartet. Sie haben aus ihren Truppen die schwächsten und albernsten Raupensoldaten ausgewählt und aus ihnen den Trupp des neuen Generals gebildet.
„Hm,“ sagte Blumensprung, während er seine grinsenden Soldaten musterte. „Antreten!“
Diese stellten sich um ihren General und traten sich dabei gegenseitig auf die Füße.
Die vier Truppen machten sich sofort an die Arbeit. Sie mussten anhand des neuen Plans vier Festungen an strategisch wichtigen Punkten errichten. Den neuen Plan hat natürlich auch Mirmidone genehmigt. Aber die Raupensoldaten ließen mit sich nicht reden. Der Eine war klüger und erfindungsreicher als der Andere und jeder Besserwisser wollte seine bahnbrechenden Ideen umsetzen. So errichteten sie riesige, merkwürdig aussehende Bauten, die keinen einzigen unterirdischen Gang hatten.

Dagegen hatten Blumensprungs Soldaten die Befehle des Generals blind befolgt. Sie trugen die Erde brav zusammen und stampften sie mit ihren Beinen fest. Sie bauten eine kleine Festung, nur ein paar Fuß hoch, mit einem richtigen Tunnellabyrinth. Sie haben die Mauer mit Baumrinde verstärkt. 
Als die Heuschrecken einen Angriff gegen die Raupen richteten, versteckten sich die Truppen in den Festungen und deckten die Heuschrecken mit einem Hagel von Pfeilen ein. Sie versuchten auch die feindlichen Kanonenröhren mit faulen Ăpfeln zu verstopfen. 
Aber die Festungen der drei Generäle hatten nicht einmal Schießscharten, also konnten die Raupensoldaten kaum schießen. Zwei der prächtigen „Bauwerke“ stürzten bald ein und begruben Verteidiger und Angreifer unter sich. Blumensprung und seine Soldaten konnten aber die Raupen vor einer Niederlage retten. Aus der Festung konnten sie auf die Belagerer schießen und haben sie nach und nach zurückgedrängt.

Prinzessin Mirmidone verfolgte jede Bewegung der Raupen – von den Bauarbeiten bis zur Schlacht der vier Truppen. Sie war entschlossen, den Generälen ihre wohlverdiente Strafe zu erteilen und gab den Befehl zum Bau eines Schafotts. Den Generalen wurde es richtig mulmig zumute, als sie sahen, dass Mirmidone ihren Beobachtungsposten verließ und das sich die Zimmermannraupen an die Arbeit machten.
Aber der Richtplatz konnte nicht fertig gebaut werden, denn die Verteidiger mussten den nächsten Ansturm der Heuschrecken abwähren.

Mirmidone wusste, dass ihr Raupenvolk einen richtigen Heerführer braucht, der die Soldaten zum Kampf ermuntern kann, so wie General Blumensprung. Wer sollte ihr Volk in den Kampf führen?
Mirmidone zog ihre Rüstung an, nahm einen Helm und einen Speer. Sie tauchte plötzlich vor der Armee auf, nahm einen Anlauf und warf ihren Speer. Sie traf den Heuschreckengeneral Teer, zerstörte seinen Panzer und verwundete ihn schwer. Die Raupen trauten ihren Augen kaum, sie folgten ihrer Prinzessin, die ihrerseits die Anweisungen von Blumensprung befolgte. Sie konnten einen glänzenden Sieg erkämpfen.

Die siegreiche Mirmidone wurde in einem Blütenregen in den Palast geführt und zur Königin gekrönt. Die Generäle, die tapfer gekämpft haben, wurden begnadigt, sie erhielten sogar weitere Fuß-Orden. Blumensprung erhielt eine Dreißig-Fuß-Auszeichnung.
Danach feierte das Raupenvolk die Verlobung der Prinzessin mit General Dreißig-Fuß-Blumensprung.

Die siegreiche Mirmidone wurde in einem Blütenregen in den Palast geführt und zur Königin gekrönt. Die Generäle, die tapfer gekämpft haben, wurden begnadigt, sie erhielten sogar weitere Fuß-Orden. Blumensprung erhielt eine Dreißig-Fuß-Auszeichnung.
Danach feierte das Raupenvolk die Verlobung der Prinzessin mit General Dreißig-Fuß-Blumensprung.