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Das milchtal

Eine Geschichte von Mediana Stan, Ubersetzt von Tilda Hoffman M.A, Zeichung von Moldovan George.

In diesem Frühling gingen die Geschäfte meines Vaters nicht besonders gut. Mein Vater kam kam ganz wütend von dem Markt zurück, mehr als die Hälfte der Kuhherde konnte er nicht verkaufen und wie immer, wenn er verärgert war, fluchte er und ging ins Bett ohne etwas zu essen. Am nächsten Tag versammelten sich bei uns in der Stube alle Rinderzüchter aus der Umgebung und beim Wein haben sie sich beraten. Sie waren richtige abgehärtete Kuhhirten, sie hatten in ihren Kuhställen über hundert Kühe, sie wuschen sich nur zweimal im Jahr, zu Weihnachten und zu Ostern, sie tranken Schnaps wie reines Wasser, sie konnten schrecklich fluchen und sie wischten sich ihre fettigen Messer vom Speck an den Hosen ab. Sie waren aber keine schlechten Menschen und in ihren Taschen waren auch immer einige Zuckerstückchen für uns Kinder, aber auch für die Pferde. Sie redeten mit gedämpften Stimmen und zusammengesteckten Köpfen über die unvermeidbare Konkurrenz für ihre Kühe. Wenn sie auf den Viehmarkt gehen, müssen sie ihre Kühen entweder unter dem Preis verkaufen oder sie kehrten mit den nicht verkauften Kühen wieder nach Hause zurück, während die Hirten aus dem Milchtal ihre schlanken Kühe, mit den langen und gedrehten Hörnern, die sehr viel und gute Milch gaben, sofort verkauften.

Es scheint so, dass die Kühe vom Milchtal auch nachts auf der Wiese grasen. Diejenigen, die diese Kühe kaufen, mischen die neu erworbenen Kühe aus dem Milchtal mit den anderen Kühen aus der Herde, sie gehen wie die anderen Kühe am Tag auf die Wiese und dann geben sie genauso viel Milch wie die anderen Kühe aus der Herde. Es bleibt nur die Frage: Warum kaufen die Menschen trotzdem diese Kühe aus dem Milchtal? „Der gute Ruf“ sagte mein Vater ganz erbost und alle anwesenden Köpfe murmelten ihm nach: Der gute Ruf.

Gleich ist mir Luca in den Sinn gekommen. Wir lernten an derselben Schule und wir waren auch befreundet. Er wohnte in Milchtal und er hat mich sogar zu sich nach Hause eingeladen. Ich musste hingehen, um die Wahrheit zu erfahren. In den Ferien ging ich eines Tages los. Ich musste zuerst ein Teil des Weges mit dem Zug fahren und danach ging ich ein Stückchen zu Fuß weiter, bis ich im Milchtal angekommen war. Das Dorf lag auf einer Hochebene, das ein flaches und weitläufiges Tal war, das von drei Flüssen durchzogen wurde, die dann in einen Fluss mündeten und das von rötlichen und trockenen Feldern umgeben war. Lucas Haus war das Letzte und lag gleich am Rande der Ebene.

Die hintere Mauer verlängerte die Felsen des steilen Abhangs. Es war früh am Morgen, man sah keinen Menschen im Dorf und die Gänse watschelten auf der Straße. Als sie mich sahen, streckten sie ihre Hälse und fingen an zu zischen. Das Tor war ein Spalt offen und bin ich ganz schnell in den Hof hineingeschlüpft. Von dort aus sah ich wie die Gänse am Rande des Abhangs ankamen und dann in die Richtung Ebene flogen. Luca stand an der Türschwelle und lächelte mir zu:

„Sie kommen abends wieder zurück. Sie passen selber auf sich auf.“ 

Ich ging in das kühle Haus hinein und setzte mich auf eine Truhe. Der Raum war klein, die Wände waren weiß gestrichen und mit Baumrinden bedeckt. Neben der Wand stand ein Eisenofen mit Beinen wie die Pfoten eines Hundes, der das halbe Zimmer einnahm. Es war ein warmer Frühlingstag. Im Ofen brannte kein Feuer mehr und auf der Kochplatte trocknete der Liebstöckel. Durch die geöffnete Tür blickte man in den Nebenraum hinein, wo ich einen Webstuhl sah.

„Aber wo ist deine Familie?“

„Meine Mutter ist gerade aus dem Haus gegangen, um sich die Knochen zu strecken und neue Kräfte zu sammeln. Sie webte die ganze Nacht,“ fügte er noch hinzu.

ch quatschte mit Luca über Gott und die Welt, als ich auf einmal aus der Richtung des Ofens ein Geräusch hörte, die gusseisernen Ofenplatten fingen sich an zu bewegen und gaben laute Töne von sich. Ich nahm das Bündel Liebstöckel und die Ofenplatten weg und ich sah einen Kinderkopf. Das Kind kroch aus dem Ofen heraus und Luca erklärte, es sei seine Schwester und er nahm das Kind ganz schnell auf seine Arme, während ich wie versteinert vor der Schlafstelle des Kindes stehen blieb. Das Mädchen war ungefähr zwei Jahre alt und ganz nackt, ich half Luca es in einem Waschtrog zu baden. Danach zog er dem Mädchen ein Hemdchen und ein weißes Röckchen an. Es sah einer lebendigen Pusteblume ähnlich, die vom Wind geschützt werden müsste, damit sie nicht verweht. Sie starrte mich an und ich hatte das Gefühl, das es mich durchschaute. Eine Zeit lang blieb das Mädchen ganz still auf den Armen ihres Bruders, ob es etwas hörte und lauschte, dann fing sie an zu wimmern. Auf ihrer Nase hätte bestimmt ein Schlitten mit großer Geschwindigkeit rutschen können, der zuerst ein bisschen zur Nasenspitze gefahren wäre und danach dort am Rande des Abgrunds plötzlich zum Stehen kommt.

Das Mädchen fing an zu lachen und plötzlich hatte ich das Gefühl im Bauch, das man vom ganz alleine hochspringen würde.

“Na bitte”, murrte Luca. “Mutter hat versprochen jemanden bei den Kühen einzustellen, aber ich vermute, sie wird es selber sein“

„Wo sind denn die Kühe?“, fragte ich. Ich zog die Gardinen von einem kleinen Fenster zurück, wo man zum Stall blickte und ich sah die schlafenden Kühe.

„Wie heißt deine Schwester?“, fragte ich.

„Wie heißt du denn?“, fragte sie Luca.

"Arina“, antwortete sie „und am Abend gehe ich mit den Kühen“.. 

Ich schaute zu Luca hin.

„Bei meiner Mutter kannst du dich nicht quer stellen!“, sagte er.

 Ich ging heraus und wir nahmen Arina zwischen uns an die Hand und wir liefen den Weg runter zum Tal. 

„Arina ist schon versprochen. Wenn sie achtzehn Jahre alt wird, wird sie einen Burschen heiraten, der über sieben Dörfer entfernt wohnt. Bis dahin wird sie hier mit den Kühen auf die Weide gehen und ihre Brautausstattung nähen. Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie kompliziert hier ein Brautkleid ist. An diesem Kleid wird jahrelang genäht. Es ist das wichtigste Ereignis im Leben eines Mädchens“, sagte er noch. Gebeugt zu dem Mädchen, das verwöhnt lachte, sagte er rhythmisch ein paar Verse auf:

„Die vier Evangelisten waren drei,

Luca und Matei,

was sie auch suchten, haben sie gefunden,

Die Erde auf den Fingern haben sie umbunden“

Ich fühlte mich, ob ich keine Luft mehr bekam:

„Wird sie denn nicht in die Schule gehen?“, fragte ich.

„Was soll sie in die Schule lernen? Wird sie lernen schöner zu Nähen, wenn sie in die Schule geht? Wird sie dort erfahren, woher sie kommt, wohin sie gehen wird, wie wir die erste Liebe überleben?“

„Ich werde die erste Liebe nicht überleben“, sagte ich und dabei schaute ich Arina an.

Luca schwieg wie ein alter und weißer Mann. Er war aber nur drei Jahre älter wie ich. Er hob seine Schwester auf die Schulter und wir gingen weiter durch das Tal. Die Flüsse waren weiß, wie die Milch und es kam einem vor, als ob sie ganz langsam kochen würden.  

„Versuche in meine Fußspuren zu treten „ sagte er. „Hier gibt es auch ein Moor, aber man weiß nicht, wo genau. Es ändert seine Stelle jedes Mal. Hier verändert sich alles, nur der Fluss bleibt an seinem Platz, obwohl man das von ihm am wenigsten erwarten würde. ...Der Fluss zeigt uns den Weg.“ Er ging mit geschlossenen Augen und mit dem Gesicht zur Sonne gerichtet.  Arina sang und  die Füße baumelten an der Brust ihres Bruders.

 Wir machten eine kleine Rast am Flussufer, auf der grünen Wiese, zwischen den großen weißen Steinen. Wir lagen in der Sonne auf den Steinen, danach badeten wir in dem weißen Fluss. Das Wasser war schwer, wie Milch und dampfte. Arina rannte hinter kleinen blauen Schmetterlingen her. Ich schaute mir diese ausgedörrte, rötliche Landschaft mit ganz wenigen Wiesen an und mein Blick streifte entlang der Flüsse. Sie liefen zu einer Ebene, die zum Himmel empor ragte, gerade wie eine Mauer.

„Der Boden ist hier sehr trocken, enthält viel Eisen und ist als Weide sehr wenig geeignet “, erklärte mir Luca.

„Und dann wo grasen die Kühe?“, fragte ich.

Luca sprach und dabei beobachtete ganz genau einen Käfer, den Arina mitbrachte:   

„Sie gehen weit weg, sie gehen zu den Feldern dort, und zeigte mir mit der Hand eine Ebene.“  Ich schloss meine Augen und hörte das Gurgeln des Wassers zwischen den Steinen ... es schien mir so, ob ich bekannte Töne höre ... 

“Spricht der Fluss?”

Luca lächelte:

„Er sagt ununterbrochen : Alles ist gut!“

„Wie das denn?“

„Weil erstens: Jedes Ding existiert und zweitens: jedes Ding ist sehr nah an dem existierenden Ding oder ist Teil des Dinges, was existiert- das bedeutet, dass nach existiert nur gut folgen kann und auch wenn du vor dem existierenden Ding das Böse tust, wird es trotzdem Gut sein“.

„Die erste Aussage ist etwas einleuchtender”; brummte ich.

Ich schaute Arina zu, wie sie im Wasser badete. Sie war genau so weiß, wie der Fluss und sagte:

„Schau mal, wie es von heute früh gewachsen ist“

„Wie, bitte?“

„Sie ist jetzt größer geworden“, sagte ich.

„So ein Quatsch“, murmelte Luca.

 Es kam mir in den Sinn, ein paar nicht gerade freundliche Worte Luca zu sagen und für allemal mit ihm fertig zu werden. Was dachte er? Kann er mich für so dumm halten? Das Kind hat sich auch im Gesicht verändert. Verdammtes Hexenvolk!

„Hör mal zu“, sagte Luca. „Du bist mein Freund und du hast recht, was du gesagt hast, aber ich wüsste nicht, wie ich es die erklären soll. Es ist so, wie es scheint und gleichzeitig ist es nicht so.“

Ich erinnerte mich an seine komplizierte Definition über sein – und nicht sein, aber was trotzdem  ja  bedeutet.

Ich machte mit der Hand eine überdrüssige Geste. 

Die Sonne versteckte sich hinter den Hügel und das Tal wurde mit Schatten überzogen und Kälte kam auf, die bis in die Knochen zog. Wir gingen zu Luca nach Hause und ich lernte seine Mutter kennen. Sie bereitete das Essen vor in einer kleinen Küche im Hof. Sie war dick und hatte eine weiße Haut, sie bewegte sich wie eine Gans und sie schnatterte genau so. Sie deckte den Tisch für uns und dann ließ sie uns alleine. Sie ging zu ihrem Webstuhl. Wahrscheinlich webte sie an Arinas Brautausstattung. Luca zündete eine Lampe an, die an der Decke hing, gebastelt aus einem Kürbis und mit angeschimmelten Stellen. Wir aßen mit sehr großem Appetit und bis wir mit dem Essen fertig waren, ging Arina schon vom Tisch weg und ging hinaus ohne ein Wörtchen zu sagen.

Sie war etwas kleiner als ich. Ich schaute ins Leere, zu der Tür, wo das Mädchen verschwunden war. Luca schaute den Kürbis an und sagte:

„Diese Nacht ist Vollmond.“ Dann führte er mich in ein kleines Zimmer und breitete mir ein Lager aus Heu auf einer Matratze.

Ich legte mich auf das Bett mit den Händen hinterm Kopf. Die Wände waren mit Lehm verputzt, mit Buckeln und voll mit Löchern, aus denen ein rötliches Licht durchdrang. Ich war gerade dabei einzuschlafen, erschöpft von dem langen Weg und vom Baden, aber ich riss mich aus dem Bett und rannte hinaus zu dem Abgrund. Die Flüsse im Tal leuchteten in der Dunkelheit der Nacht und die Kühe des ganzen Dorfes gingen in den Flüssen. Sie waren so zahlreich, dass die Herde gar kein Ende mehr nahm – man hörte ihre Gebrüll und die Kuhglocken. Auf dem Rücken einer Kuh erkannte man Arinas Silhouette. Sie gingen zu der Ebene, was mir am Nachmittag Luca gezeigt hat. Der Mond stand schon etwas tiefer als diese Hochebene, nach und nach begannen die ersten Kühe schon mit dem Anstieg und ihre schlanken und schwarzen Körper wurden von einem Lichtkranz umgeben.

Das war also alles wahr. Das bedeutete für meine Familie und für die anderen versammelten Hirten an unserem Tisch nur der Anfang unseren Sorgen. Wie kam es, dass Luca trotzdem mich zu ihm einlud, obwohl er ahnen musste, dass ich alles sehen und hören würde? Ich ging zitternd vor Kälte zu meiner Schlafstelle zurück. Im Bett lag Luca und seine Augen waren auf mich gerichtet.
           „Sei nicht so erzürnt! Ich weiß selber, dass wir ein Dorn im Auge für alle ehrlichen Kuhhirten sind. Wir haben aber gar keine andere Wahl. In kurzer Zeit werden wir hier alle verschwunden sein!“

„Wo geht ihr hin“, fragte ich durchfroren?

„Dorthin, wo man eine Weide hat“, antwortete Luca.

Am nächsten Tag wachte ich auf, wusch mich am Brunnen, kippte ein Eimer Wasser über meinen Kopf und vor meinen Augen spielte sich das Geschehen von der Nacht ab und ich konnte auch an nichts mehr anderes denken. Ich schaute zu dem Stall hinüber und ich sah wieder das Bild mit den schlafenden Kühen, mit ihren geflochtenen Hörnern, als ob sie tot wären.

Ich verabschiedete mich von Luca, fragte nach Arina, aber er sagte mir, sie sei vor Müdigkeit erschöpft und sie schliefe. Ich erinnerte mich an meine Zeit, als ich so klein war wie sie und ich zwischen den Kühen schlief und fragte mich, ob sie auch so schliefe oder eher in einem weißen, weichen Bett, wie es sich für ein kleines Mädchen gehörte. Aber was spielte das noch für eine Rolle?

Ich schritt zusammen mit den Gänsen durch das Tor, ich schaute wieder ihnen nach, wie sie in Scharen wegflogen und dann ging ich zum Bahnhof.  

Der lange Weg tat mir gut, ich konnte in Ruhe nachgrübeln. Musste ich meinem Vater alles über die Ereignisse berichten? Wie kommt es, dass Luca über diese Sache überhaupt nicht besorgt war?   Ich kam  zu Hause an. Mein Vater war im Stall und zusammen mit zwei Knechten striegelten sie die Pferde. 
 „Bist du wieder da“, sagte er fröhlich und dann fragte er mich kurz, wie die Lage ist. Sein Gesicht war ehrlich und man konnte ihm seine Sorgen ablesen, die soviel Kummer bereiteten. Ich konnte ihn nicht anlügen. Ich senkte meine Augen zur Erde:

„Es ist wahr ...“

 „Die verdammten Hurensöhne!“, und dann sprang er auf sein Pferd und ritt los. Am nächsten Tag ritten alle Hirten in einer Schar zum Milchtal. Dort fanden sie nichts mehr, absolut gar nichts mehr, nicht mal eine vergessene Katze, nur die leeren, verlassenen Häuser und Ställe.
           Die schlanken Kühe mit den langen, geflochtenen Hörnern wurden nie wieder auf dem Viehmarkt gesichtet. Der gewöhnliche Alltag kehrte in das Leben der Hirten zurück. Seit dem sind zehn Jahre vergangen. An einem Sommertag ritt ich zu dem verlassenen Dorf. 

Ich hatte weder die Häuser vorgefunden, noch erkannte ich die Orte wieder, nur der Fluss war noch genau so weiß, mit seinen weißen Steinen und am Ufer breitet sich die grüne Wiese aus. Bis zum Abend streifte ich ziellos durch die öde Landschaft, dann kehrte ich zum Ufer zurück, ich ging in den Fluss hinein und sah, dass das Wasser sehr flach war; es bedeckte gerade mal die Pferdehufe und das Wasser kochte langsam. Ich ritt in der Richtung, wie der Fluss floss, abwechselnd von einem Flussarm zum anderen und dabei dachte ich an Arina ...Mit Arina als Ehefrau, wäre es mir gleichgültig, ob die Kühe verkauft werden oder nicht ... oder vielleicht wäre ich mindestens weniger erbost.

Ob sie jetzt noch genau so schön war? Da ihre Mutter doch einer Gans ähnelte ... Die Kinder sind doch so wundervoll, um von den Erwachsenen beschützt zu werden ...Wenn sie groß sind, ähneln sie den  Eltern sehr: Aber ich bin mir sicher, ich würde sie trotzdem lieben, auch wenn sie so wäre wie ihre Mutter. Ich würde wissen, dass sie in einer dieser Gänse versteckt ist und dieses Wissen würde mir vollkommen reichen.

Ich hörte noch Arinas Gesang mit ihrer Kinderstimme:

Ich stand gerade und bewegte mich nicht

Der Iltis beschnupperte mich und lief aus meiner Sicht

Ich trank bis zur Erschöpfung

Aus dem verfaulten Apfel ist der Kern gesprung

Hurrahurra ich bin auf mich`so stolz

Machte das Feuer mit dem letzten Streichholz!